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| - Virales Sharepic
Irreführende Grafik zu Kriminalitätsentwicklung verbreitet
27.2.2025, 11:25 (CET)
Um die deutsche Migrationspolitik seit 2015 während der Regierungszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu kritisieren, werden immer wieder Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) als Argumentationsmittel herangezogen. Eine in sozialen Netzwerken verbreitete Liste soll zeigen, dass schwere Kriminalität wie Mord oder Vergewaltigung in den Jahren 2018 und 2023 im Vergleich zu 2014 angeblich teils drastisch zugenommen habe. Die Zahlen werden auf Instagram, Tiktok, Threads und X geteilt, ebenso auf offiziellen Social-Media-Accounts der AfD (hier und hier).
Bewertung
Die angegebenen Werte aus der Kriminalstatistik sind überhaupt nicht vergleichbar. Bei manchen Zahlen ist zudem völlig unklar, woher sie stammen. Außerdem wurden die Definitionen von Straftaten oder Tatverdächtigen über die Jahre immer wieder angepasst, wodurch direkte Vergleiche nicht möglich sind. Die Zahlen für 2023 in der Liste sind allesamt falsch und deutlich zu hoch.
Fakten
Die verbreitete Auflistung zur Kriminalität basiert angeblich auf Daten des Bundeskriminalamts (BKA). Das Sharepic nennt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) als Quelle. Manche Zahlen stammen tatsächlich von dort, andere nicht.
Viele Faktoren, die einen Vergleich der Werte über die Jahre unmöglich und die Daten im Sharepic an sich falsch machen, werden außer Acht gelassen. Dazu gehören etwa die geänderte rechtliche Definition, was «Zuwanderer» oder «sexueller Übergriff» ist, oder was unter einer «vollendeten Tat» zu verstehen ist. Aber der Reihe nach:
Warum 2023 nicht mit den anderen Jahren vergleichbar ist
Einige der Werte aus der Liste decken sich mit denen des Bundeslagebilds «Kriminalität im Kontext von Zuwanderung». In diesem jährlich erscheinenden Bericht führt das BKA Taten an, an denen mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt war. Zu dieser Gruppe zählt (S. 4) die Polizei neben Asylbewerbern auch Schutz- und Asylberechtigte, Kontingentflüchtlinge, Menschen mit Duldung oder mit unerlaubtem Aufenthalt. Es werden auch solche Fälle erfasst, bei denen weitere Tatverdächtige ermittelt wurden, die nicht zur Gruppe der Zugewanderten gehören - und womöglich sogar die jeweils Hauptverdächtigen sind.
Zahlen 2014: Diese Werte im Sharepic stammen aus dem Bundeslagebild 2015. Demnach gab es in jenem Jahr 122 «Straftaten gegen das Leben» (S. 12), bei denen mindestens ein Zuwanderer als Tatverdächtiger ermittelt wurde. Delikte im Bereich «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung» wurden 949 Fälle gezählt (S. 14), «Rohheitsdelikte», worunter auch - aber nicht ausschließlich - Körperverletzungen fallen, waren es 18.512 (S. 18).
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Zahlen 2018: Auch diese Werte zeigen die polizeilich erfasste Kriminalität im Kontext von Zuwanderung und stammen aus dem Bundeslagebild 2018. «Straftaten gegen das Leben» wurden damals 430 registriert (S. 17), «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung» gab es 6.046 (S. 20) und «Rohheitsdelikte» wurden 73.177 festgestellt (S. 25).
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Zahlen 2023: Die Quelle dieser Zahlen bleibt völlig schleierhaft. Was aber klar ist: Aus dem Bundeslagebild 2023 über Zuwanderer-Kriminalität stammen sie eindeutig nicht. Denn darin wurden 348 Fälle von «Straftaten gegen das Leben» (S. 15) registriert (nicht 1.131) - also sogar weniger als 2018. Genauso wenig gab es 44.754 «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung», im Bericht ist von 8.800 die Rede (S. 15). Die Zahl der «Rohheitsdelikte» wird darin mit 79.985 (S. 16) angegeben (nicht 1.282.529).
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Klar ist: Zwischen den Sharepic-Werten für 2023 und den Zahlen von 2014 und 2018 gibt es keinerlei Zusammenhang. Die vermeintliche Steigerungen im vierstelligen Prozentbereich ist eine völlig absurde Erfindung.
Warum auch die Werte von 2014 und 2018 nicht vergleichbar sind
Ein Vergleich von 2014 zu 2018 ist ebenso nicht möglich, da sich die Definition des Begriffs «Zuwanderer» zwischenzeitlich geändert hat. Denn anders als zuvor werden erst seit 2017 auch Tatverdächtige mit positiv abgeschlossenem Asylverfahren - also «Schutzberechtigte» und «Asylberechtigte» - in die Betrachtung mit einbezogen. «Diese Personengruppe floss bis zum Berichtsjahr 2016 nicht in die Statistik ein», heißt es vom BKA (S. 3). Das heißt: Die Größe der als Zuwanderer in der PKS definierten Gruppe hat sich zwischen 2016 und 2017 vergrößert, was auch Einfluss auf die Fallzahlen hat.
Deliktkategorie «Vollendeter Mord und Totschlag» verzerrt
Die Zahlen, die im Sharepic mit «Vollendeter Mord und Totschlag» benannt sind, werden vom BKA als «Straftaten gegen das Leben» definiert. Die BKA-Kategorie umfasst neben Mord und Totschlag auch fahrlässige Tötung oder Schwangerschaftsabbrüche. Zudem werden auch reine Versuche mit einbezogen, nicht nur vollendete Taten.
Ein genauer Blick auf den Bereich Mord/Totschlag im Jahr 2018 zeigt auch hier die Desinformation im Sharepic: Dem Bundeslagebild 2018 zufolge (S. 17) gab es 61 Fälle eines vollendeten Tötungsdelikts, nicht 430 (wie im Sharepic behauptet). Bei «Straftaten gegen das Leben» bleiben glücklicherweise viele im Versuchsstadium stecken.
Zum Vergleich: 2023 wurden Tötungsdelikte in 64 Fällen mit mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer als vollendet registriert (S. 15) - was keinem enormen Anstieg im Vergleich zu 2018 entspricht. Der im Sharepic angegebene Wert von 1.131 ist also völlig überhöht.
Sharepic missachtet außerdem Änderungen um Sexualstrafrecht
Auch in Hinblick auf die Deliktkategorie «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung» gab es in den vergangenen Jahren Änderungen. Seit Ende 2016 fallen durch die Reform des Sexualstrafrechts mehr Delikte darunter (S. 24).
Dazu zählt seither auch «sexuelle Belästigung», was vorher nicht erfasst wurde. Dadurch werden mehr Fälle in dieser Kategorie als in den Vorjahren erfasst, ohne dass die tatsächliche Kriminalität gestiegen sein muss. In der PKS sind «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung» nicht ausschließlich Vergewaltigungen.
Kriminalstatistik zeigt keine Verurteilungen
Grundsätzlich ist zu bedenken: Die PKS trifft keinerlei Aussage darüber, ob eine Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde der Auffassung der Polizei etwa in Bezug auf die Tatverdächtigen oder die mutmaßlich begangene Tat folgt. Auch gibt die Kriminalstatistik keine Auskunft, ob die Tatverdächtigen später von einem Gericht schuldig gesprochen wurden oder nicht.
Der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zufolge werden Menschen, denen man einen Migrationshintergrund ansieht, grundsätzlich häufiger angezeigt, was die Statistik zusätzlich beeinflussen kann.
Die Kriminalstatistik zeigt außerdem nur Fälle, die der Polizei bekannt geworden sind. Bei Sexualdelikten zum Beispiel wird davon ausgegangen, dass viele Taten überhaupt nicht angezeigt werden.
(Stand: 27.02.2025)
Links
Polizeiliche Kriminalstatistik (archiviert)
BKA-Bundeslagebilder im Kontext von Zuwanderung nach Jahren (archiviert)
BKA-Bundeslagebild im Kontext von Zuwanderung 2015, darin Zahlen zu 2014 (archiviert)
BKA-Bundeslagebild im Kontext von Zuwanderung 2017 (archiviert)
BKA-Bundeslagebild im Kontext von Zuwanderung 2018 (archiviert)
BKA-Bundeslagebild im Kontext von Zuwanderung 2023 (archiviert)
ZHAW-Studie u.a. zu Gewalt von Flüchtlingen vom Januar 2018 (archiviert)
Facebook-Post mit Falschbehauptung (archiviert)
Facebook-Post der AfD Darmstadt-Dieburg mit Falschbehauptung (archiviert)
Facebook-Post der AfD Offenbach-Land mit Falschbehauptung (archiviert)
X-Post mit Falschbehauptung (archiviert)
Threads-Post mit Falschbehauptung (archiviert)
Tiktok-Post mit Falschbehauptung (archiviert)
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